Im Rahmen eines vom Erasmus+-Programm der EU-Kommission geförderten Projekts sollen europäische Jugendliche nach "Nordafrika" geschickt werden - allerdings ohne sie darüber zu informieren, dass sie dadurch die illegale Besatzung der Westsahara zu normalisieren.
AKTUALISIERUNG, 21.12.2023: Das Austauschprogramm wird nun doch nicht in der Westsahara stattfinden.
Fünf europäische Verbände haben in den letzten Tagen Jugendliche eingeladen, sich für die Teilnahme an einem neuen Jugendaustauschprogramm an einem Ort namens "Dakhla, Nordafrika" oder "Dakhla, Marokko" oder "Nordwestafrika" zu bewerben.
Die verantwortliche Organisation scheint die spanische Vereinigung Proactive Future mit Sitz in Asturien zu sein.
"Mit dem Ausfüllen dieses Formulars erklären Sie, dass Sie den Inhalt und die Bedingungen des Infopakets des Projekts auf proactivefuture.eu vollständig gelesen und verstanden haben", heißt es auf dem Antragsformular auf der Website der spanischen Organisation.
Allerdings findet sich auf der Website keine einzige Information über den Hintergrund des Veranstaltungsortes. Die Website enthält ein "Infopaket", in dem erklärt wird, dass die Veranstaltung in "Dakhla" stattfinden wird, ohne jedoch einen weiteren Kontext zu liefern, was dies bedeutet.
Die vage Formulierung der spanischen NRO "Nordafrika" könnte darauf hindeuten, dass sich der Verein der Kontroversen bewusst ist, die mit der Ausrichtung der Veranstaltung an genau diesem Ort verbunden sind. Die Programmpartner in Griechenland, Bulgarien und Italien geben sogar an, dass die Veranstaltung in Marokko stattfinden soll, was faktisch falsch ist.
Um die Sache noch verwirrender zu machen, hat die spanische NGO in ihrem Marketing keine Bilder aus Dakhla in den besetzten Gebieten der Westsahara verwendet. Es gibt zwei Dakhlas auf der Welt, und der NGO ist es nicht gelungen, Bilder vom richtigen Dakhla zu finden. Auf dem Bild rechts wurden Aufnahmen von Sanddünen in der Oase Dakhla im Westen Ägyptens verwendet. Die oben abgebildete Architektur stammt von einem Gebäude im Dorf Al Qasr, das 27 Autominuten von der Oase Dakhla - ebenfalls in Ägypten - entfernt ist. Ein weiteres wüstenartiges Bild in ihrer Informationsmappe stammt aus Algerien.
Die Partnerverbände Cilento Youth Union (Italien), Dare To Scale Academy (Bulgarien) und Dream Team (Griechenland) verwenden in ihren sozialen Medien Bilder aus Dakhla in den besetzten Gebieten, wobei sie die Stadt fälschlicherweise in Marokko verorten. Interaktiva (Kroatien) verweist darauf, dass Dakhla in "Nordwestafrika" liegt.
Dakhla befindet sich in dem Teil der Westsahara, der nach wie vor von Marokko illegal besetzt ist.
Ein von acht Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MdEP) unterzeichneter Brief wurde heute an die EU-Kommissarin für Bildung, Iliana Ivanova, geschickt.
"Der EU-Gerichtshof hat in mehreren Urteilen unmissverständlich darauf hingewiesen, dass Marokko und die Westsahara 'gesonderte und unterschiedliche' Gebiete sind, und hat in diesen Urteilen klargestellt, dass alle Beziehungen der EU zu dem besetzten Gebiet der Westsahara strikt mit dem Völkerrecht in Einklang stehen müssen, insbesondere durch die Einholung der vorherigen Zustimmung des Volkes der Westsahara", schreiben die Parlamentarier:innen.
Die Europaabgeordneten forderten unter anderem, das Austauschprogramm sofort auszusetzen.
"Darüber hinaus gibt es eine völkerrechtliche Verpflichtung, die für alle EU-Mitgliedstaaten und Institutionen gilt, eine Situation, die aus einer unrechtmäßigen Aneignung von Territorium resultiert, nicht anzuerkennen", so die Abgeordneten weiter.
Einzelheiten über das von der EU finanzierte Austauschprogramm finden Sie auf der Website [Download hier] von Erasmus+. Dort heißt es, dass das Programm im Mai 2024 enden soll und dass der antragstellende Verein 48.177 Euro EU-Steuergelder für die Entsendung von Jugendlichen in das besetzte Gebiet erhalten hat.
Laut der Projektakte soll das Programm "in Dakhla (Marokko)" durchgeführt werden. Der auf der Erasmus+-Website veröffentlichte Tätigkeitsbericht enthält also einen klaren Fehler.
Die EU-Parlamentarier betonten ihre "tiefe Bestürzung über das Projekt" und dass "Dakhla nicht innerhalb der international anerkannten Grenzen Marokkos liegt, sondern in der Westsahara, einem Hoheitsgebiet, das von Marokko unrechtmäßig besetzt und annektiert ist."
"42 junge Menschen aus sieben Teilnahmeländern (Griechenland, Italien, Kroatien, Bulgarien, Rumänien, Portugal und Spanien) werden an dieser Erfahrung teilnehmen", heißt es in der Beschreibung auf der Website von Erasmus+. In demselben Artikel auf der Website heißt es weiter, dass das Programm Jugendlichen aus Marokko zugute kommen soll. Marokko ist auch in der Länderliste auf der Website von Proactive Future aufgeführt.
In jedem Fall bedeutet dies, dass Menschen aus der Austragungsland Westsahara - einem anderen Territorium als Marokko - höchstwahrscheinlich nicht zur Teilnahme an dem Programm berechtigt sind.
Die Menschen aus dem Besatzungsstaat hingegen schon. Die Hälfte des Volkes der Westsahara lebt nach der marokkanischen Invasion als Geflüchtete in Camps in Algerien.
In dem Bericht auf der Erasmus+ Website heißt es, dass die Veranstaltung vom 4. bis 12. November 2023 stattfinden sollte. WSRW hat keine Anhaltspunkte dafür, dass das Projekt zu diesen Terminen stattgefunden hat, und geht davon aus, dass es auf die neuen, kürzlich angekündigten Termine vom 27. Januar bis 6. Februar 2024 verschoben wurde. Es hat auch den Anschein, dass das Programm ursprünglich an einem anderen Ort stattfinden sollte. Die Programmbeschreibung auf der Erasmus+-Website erweckt den Eindruck, dass das Programm für einen anderen Ort, nämlich Spanien, konzipiert wurde, denn dort heißt es: "Am fünften Tag werden wir die Hauptstadt der Region, Oviedo, besuchen und den jungen Studenten die lokale Kultur näher bringen...", eine zweitägige Exkursion zu "einer Berghütte" (in Dakhla gibt es keine) usw. Auch bei den teilnehmenden Organisationen gab es einen Wechsel: Ursprünglich war eine portugiesische Organisation Teil des Programms, die jedoch durch eine marokkanische Partnerorganisation, FCC Marokko, ersetzt wurde.
WSRW hat die 7 beteiligten NGOs angeschrieben (Briefe siehe unten). Bislang wurde keines der Schreiben beantwortet. Sowohl die Dare to Scale Academy (Bulgarien) als auch InterAktiva (Kroatien) veröffentlichten fehlerhafte und irreführende Ankündigungen, nachdem sie von WSRW in dieser Angelegenheit kontaktiert worden waren.
Die WSRW empfiehlt den Jugendlichen, sich nicht für das Programm zu bewerben, und den Projektpartnern, ihre Teilnahme und ihre falsche Darstellung der besetzten Gebiete, die nicht mit der Position der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, des EU-Gerichtshofs, des Internationalen Gerichtshofs und der Positionen ihrer jeweiligen Regierungen übereinstimmt, unverzüglich zurückzuziehen.
1. Proactive Future (Spanien). Schreiben von WSRW vom 29.11.2023.
2. InterAktiva (Kroatien), Facebook. Schreiben von WSRW vom 29.11.2023. Erwähnt den Ort nur als "Nordwestafrika" auf Facebook 05.12.2023.
3. Cilento Youth Union (Italien). Gibt auf seiner Facebook-Seite [Download hier] und auf Instagram am 30.11.2023 sowie auf seiner Website den Ort fälschlicherweise als "Marokko" an. Schreiben von WSRW vom 29.11.2023.
4. Dream Team (Griechenland). Gibt auf seiner Website Website [Download hier] und auf seiner Facebook-Seite [Download hier] fälschlicherweise den Ort "Marokko" an. Schreiben von WSRW vom 29.11.2023.
5. Geo Club (Rumänien), Instagram. Schreiben von WSRW vom 29.11.2023.
6.Dare To Scale Academy (Bulgarien). Schreiben von WSRW vom 29.11.2023. Fälschlicherweise wird der Standort "Dakhla, Marokko" auf Facebook angegeben 04.12.2023
7. FCC Marokko (Forum Connecting Cultures in Marokko), Instagram. Brief von WSRW 29.11.2023.
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